Einführung
Klassischerweise folgt die Lehrmethode in japanischen Kampfkünsten dem Leitsatz Shu Ha Ri.
Shu / 守 - Nachahmen
Ha / 破 - Brechen
Ri / 離 - Loslassen
Gemeint ist der Umgang mit einer zu erlernenden Technik. Diese sollte hiernach zunächst möglichst detailgetreu vom Lehrer kopiert werden. Erst nachdem der Schüler durch das "Kopieren" des Bewegungsablaufs eine Vorstellung von der Ausführung erhalten hat, ist es Zeit das zweite Level, das Ha-Level zu trainieren. Dabei soll die erlernte Grundform gebrochen werden und der Schüler außerhalb der bisher bereits gefundenen Komfortzone die Technik ausführen lernen. Hat der Schüler auch dieses Level hinter sich gelassen, so folgt die letzte Stufe, das Ri-Level. Auf diesem Level werden bislang vordefinierte Rahmenbedingungen über Bord geworfen und das Prinzip hinter der Technik trainiert. Es geht hierbei also weniger um eine konkrete Ausführung einzelner isolierter Bewegungen, sondern um die Erreichung des Ziels der trainierten Technik, bei der nur noch das anzuwendende Prinzip beibehalten wird.
Ri/ 離 - Loslassen
Die letzte Stufe nach dem Shu Ha Ri-Prinzip ist das Loslassen von der erlernten Technik.
Dies erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich. Was jedoch zunächst unplausibel wirkt, stellt sich bei genauerer Betrachtung als essentiell für den Erfolg des eigenen Budô dar. Denn eine Technik kann niemals mehr sein als eine Option. Eine mögliche Reaktion auf einen Angriff. Würde man jedoch, angelehnt an das Shu-Level, nur den bereits identisch im Training vorgezeigten Ablauf "abspulen", so wird die Technik aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erfolgreich sein. Dies kann daran liegen, dass die Ausgangslage anders ist, Uke anders angreift oder auch nicht nach dem einstudierten Angriff stoppt und weiter agiert.
Aber auch das Ha-Level erlaubt dem Budôka noch nicht sicher auf alle Unwegsamkeiten angemessen zu reagieren.
Gerne möchte ich dies an einem Beispiel verdeutlichen.
Vergleichen wir unseren Budô mit dem Erlernen einer Sprache.
Einzelne Bewegungsmuster sind dann gleichzusetzen mit Worten der Sprache.
"Ich" / "können" / etc.
Komplexere Bewegungsabläufe/ Kata können als Beispielsätze angesehen werden.
"Ich kann dir immer vertrauen"
Dieser Beispielsatz kann sicherlich in einigen Situationen wertvoll sein und in einer Konversation genutzt werden können. Aber tauschen wir einfach einzelne Wörter dieses Beispielsatzes gegen synonyme Wörter aus. Ich verwende dazu Synonyme aus dem Duden für die Worte können, immer und vertrauen. Hierdurch kann der folgende Satz entstehen.
"Ich vermag es gleichbleibend auf dich zu bauen"
Dieser Satz klingt nicht nur seltsam, er ist auch nicht mehr leicht verständlich.
Selbstverständlich können auch andere, leichter verständliche Beispielsätze entstehen, zur Verdeutlichung habe ich allerdings diese Synonyme gewählt.
Es ist letztlich das Ri-Level, auf dem wir die Beispielsätze hinter uns lassen und in der Lage sind auch Nuancen einer Sprache/ einer Technik zu erkennen und in der richtigen Situation anwenden zu können. Wir sind dann in der Lage fließend von einer Technik in die nächste überzugehen, ohne einen Ablauf zwingend erst beenden zu müssen. Wir können unsere Sätze also, abhängig von der Reaktion unseres Gesprächspartners, unterschiedlich weiterführen.
Wie oben jedoch bereits benannt, bezieht sich das hier besprochene Level nicht auf einen klaren Entwicklungsstand eines Schülers, sondern vielmehr auf die jeweiligen Fähigkeiten im Umgang mit bestimmten Bewegungsabläufen/ Techniken. Auch ein erfahrener Lehrer kann mit ungewohnten Bewegungsmustern eventuell nicht ohne Übung umgehen. Jedes Level, Shu, Ha und Ri sind alle auf dem eigenen Budô wichtig. Und eine Technik auf dem Shu-Level zu studieren ist nicht verwerflich, sondern zeugt von Demut der eigenen Kunst und unseren Meistern gegenüber, die diese Techniken überliefert haben.
Abschließend erlaubt uns dieses Wissen auch uns im Training besser einschätzen zu können. Gelingt eine Technik nicht, so sollte man sich fragen, ob man auf dem Shu-Level trainiert bzw. ob beide Trainingspartner auf dem Shu-Level trainieren, oder ob man sich beim Verständnis des Trainingsinhalt vielleicht doch etwas überschätzt hat.
Und sich manchmal einzugestehen, dass man sich überschätzt hat, ist im Gesamten betrachtet, gar nicht so schlecht. Letztlich wollen wir im Training ja besser werden, unsere Fähigkeiten polieren. "Müssen" wir also auf dem Shu-Level trainieren, so haben wir etwas gefunden, dass uns bislang noch nicht zufriedenstellend gelingt und wir können uns auf eine steilere Lernkurve freuen, als z.B. auf dem Ri-Level.
Ich freue mich jedenfalls auf weiterhin viele neue Erkenntnisse, unabhängig des Levels. Denn jedes Trainingslevel hat seine Berechtigung und seine Faszination auf mich.
Ganbatte Buyû (Keep going warrior friends)
Kommentar schreiben